„Als ich 1947 in Leipzig geboren wurde, war mein Großvater zeitgleich in Dachau im Internierungslager. Er war nach dem Krieg von der amerikanischen Armee aufgrund seiner SS-Mitgliedschaft und -tätigkeit drei Jahre lang inhaftiert worden. Dass er sich nach dem Ende des Krieges in Leipzig selbst gestellt habe, ist eine von verschiedenen ‚Geschichten‘ in unserer Familie, entspricht aber seiner eigenen, schriftlichen Darstellung zur Vorlage für die später zuständige Spruchkammer in Darmstadt.
Er war als Soldat schon im ersten Weltkrieg gewesen. Diese Erfahrung hat ihn offenbar nicht gehindert, sich im nächsten ab 1941 trotz seiner 47 Jahre wieder zu engagieren.
Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, wurde 1892 geboren und ist mit 45 Jahren 1937 in die NSDAP – nach eigener Aussage auf Drängen seines damaligen Arbeitgebers – eingetreten. Davor war er bereits Blockverwalter der NSV gewesen, der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt.
Weiter zeigt ihn ein Foto strahlend auf einer Demonstration am 1. Mai 1937. 1941 sei er mit 49 Jahren zur Waffen-SS „einberufen“ worden. Von 1941 bis 43 war er daraufhin als Mitglied im SS Totenkopfverband im KZ Auschwitz
und von 43 bis 45 im KZ Buchenwald tätig. Wiederum nach eigenen Aussagen und einer eidesstattlichen Erklärung eines Unterscharführers zum Spruchkammerverfahren, war er in der jeweiligen Personalverwaltung zur „Personalaktenführung der dort arbeitenden SS-Angehörigen‘ tätig.
Viele drängende Fragen
Ein von ihm erwähnter Gestellungsbefehl zur Waffen-SS ist in der Spruchkammerakte und in anderen Unterlagen nicht zu finden. So bleiben Fragen: Kann es sein, dass er sich freiwillig zum Heeresdienst gemeldet hat und zur Waffen-SS eingezogen wurde? Wenn es so war, hätte er sich einem Gestellungsbefehl verweigern können? Wollte/wusste er, dass er nach Auschwitz geschickt wird? Was wusste er von den Lagern im Osten? Die von den Nazis euphemistisch genannte ‚Endlösung‘ war in Planung und die Ermordung von Juden hatte längst begonnen. Für die Umsetzung und Organisation der Vorhaben wurden Menschen, v.a. Männer gebraucht.
Bereits Ende der 1990er Jahre hatte ich erste Vorstöße zu Recherche gemacht als eine Freundin und Nachbarin mich auf die Möglichkeiten diesbezüglich hinwies. Es gab ein Gerücht in der Familie, der Opa sei im KZ Auschwitz tätig gewesen. In den Antworten von u.a. der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg wurden oben genannte Angaben bestätigt. Bei Nachfragen in der Familie, bei meiner Mutter und ihren Schwestern, gab es weitere kleinste Puzzleteile, aber keine sachlich-faktischen Informationen. Keine wisse etwas Genaueres und es sei auch nie Thema gewesen.
Keine Unterstützung aus der Familie
Mein Eindruck war, dass es keinerlei Engagement zur Klärung und Recherche dieser Fragen gab. Somit verschwand auch ich erstmal wieder unter der Bleidecke des Schweigens.
Als meine Tochter Jahre später in ihrer Beratungstätigkeit von Wissenschaftler*innen Kontakt zu einer Autorin über die Lager-SS hatte, berichtete diese von Seminaren in der Gedenkstätte Neuengamme für Nachkommen von Tätern.
Zusammen sind wir zu einem diesbezüglichen Seminar mit Oliver von Wrochem http://gesternistjetzt.de/oliver-von-wrochem/
gefahren. Der Umstand, dass ich in meiner Familie nicht mehr allein damit war und es nun sogar einen Rahmen, Hilfe und Erfahrung für Weiteres gab, hat mich neu beflügelt. So endete dieser neue Angang nach umfangreichem Schriftwechsel mit dem Fund der Spruchkammerakte meines Großvaters. Sie birgt neben Fakten nicht wenig entlastende Dokumente, eidesstattliche Erklärungen. Wie z.B. die Aussage des zuständigen Pfarramtes, dass ein Kirchenaustritt nie bekannt geworden sei. Ein Zahnarzt bestätigt 1948, dass mein Großvater 1941 ihm gegenüber die Bitte geäußert habe, sich für ihn zu verwenden, da dieser Beziehungen zu einem Oberst hatte. Er habe aus der SS ‚herausgewollt‘. Doch sind dies vielleicht nicht alles sogenannte Persilscheine? https://www1.wdr.de/archiv/wiederaufbau/entnazifizierung104.html
Der eine pflichtbewusst, der andere überzeugt
Immerhin hatte mein Großvater drei Jahre während der Inhaftierung in verschiedenen Lagern Zeit, Menschen aus seinem Leben anzusprechen oder anzuschreiben, die ihn entlasten sollten, bevor das Spruchkammerverfahren durchgeführt wurde. Wieder und wieder studiere ich diese Akte und kann daraus zwei Großväter herauslesen:
Der eine war pflichtbewusst, musste zur Totenkopf-SS nach Auschwitz gehen, hat sich bemüht von dort (nach Buchenwald) versetzt zu werden, hatte keinen Gefangenenkontakt, war wie ein Opfer der Umstände und der Zeit. Dieser hat 1957 einen Haft-Entschädigungsantrag für seine Internierungszeit gestellt (der selbstverständlich abgelehnt wurde). Er ist der von mir geliebte Buchhändler-Opa, der mir als Kind die ersten zwei Bücher geschenkt hat, die ich bis heute besitze. Selbst erlebt habe ich, dass er ein eher unauffälliger, korrekter und pflichtbewusster Angestellter, Vater und auch Großvater war, der für seine Familie sorgte und bis zur Rente immer seiner Buchhändlertätigkeit nachging. Ich habe ihn eher sanft, nie gewalttätig, pünktlich und genau in Erinnerung. Jeden Samstag – wir lebten damals gemeinsam als ‚Zonenflüchtlinge‘ in einer Notunterkunft in Stuttgart – erhielt seine Frau drei rote Nelken von ihm für die drei Töchter, die ‚sie ihm geschenkt‘ hatte. Meine Schwester und ich als Enkelinnen bekamen eine Tüte Süßigkeiten aus dem Schokoladengeschäft. Der Höhepunkt meiner Woche. Dafür bin ich dann auch gerne einmal Zigaretten holen gegangen am Zeitungskiosk.
Der andere ist überzeugt vom Nationalsozialismus, von der Herrenrasse, stellt sich als Blockwart zur Verfügung und tritt in die NSDAP ein. Er meldet sich im fortgeschrittenen Alter freiwillig, um sein Heimatland Deutschland im Krieg zu unterstützen. Er lässt sich lenken von seiner Vorstellung der Pflicht und des Pflichtbewusstseins. Eine seelenlose, verhärtete Ausrichtung, die die Generation seiner Töchter und auch mich geprägt hat. Seine Frau, meine Oma, war – lt. Berichten meiner Mutter – mit der Meldung zum Heeresdienst wohl nicht einverstanden, (also war er doch von sich aus aktiv?). Sie ist dann aber nicht nur an seiner Seite, sondern weiß auch um seinen Einsatz in Auschwitz. Sie hat ihn dort besucht. Das haben wir mit unserer Recherche aus den wenigen Dokumenten, die in Auschwitz verblieben sind, erfahren. Auch darüber wurde in der Familie nie gesprochen. Sein Antrag auf Haftentschädigung zeigt, wie er zu seiner Verantwortung und Schuld stand. Eine Äußerung von ihm erinnert meine Cousine in der damaligen DDR, bei der der Opa 1961 zu Besuch war: der Prozess gegen Eichmann wurde im Fernsehen übertragen. Er war zornig darüber, was Eichmann angetan wurde. Er sei nur ein Befehlsempfänger gewesen und habe lediglich seine Pflicht getan.
Innere Arbeit und politische Verantwortung
Was all die Jahre in meiner Kindheit – und darüber hinaus – spürbar und schwer zu bewegen war und damit einer Bleidecke glich: dass Wesentliches nicht Thema sein durfte, möglichst keine Gefühle und erst recht kein Widerspruch, keine Kontroverse. Den Gehorsam erprügelten die Frauen oder brachen den Kinderwillen mit anderen drastischen Maßnahmen. Zucht und Ordnung – in den Kriegs- und Nachkriegsjahren familiär, gesellschaftlich nicht nur toleriert, sondern durchaus üblich, erwünscht und von der Gesetzeslage erlaubt. Ich liebte diesen Großvater und schwer, vielleicht gar nicht, aufzulösen ist die emotionale Ambivalenz, die mit dem Wissen um seine SS-Täterschaft entstand. Seine Geschichte zu veröffentlichen, löst auch immer noch Restgefühle von Verrat aus. Es ist innere Arbeit, sich vom Willen der politischen Verantwortung und Auflösung der Komplizenschaft leiten zu lassen.
Er war lange tot als ich von seiner Täterschaft erfuhr. So konnte ich schon deswegen keine Auseinandersetzung mit ihm persönlich darüber führen, wie er zu seinem Beitrag zur zutiefst menschenverachtenden, rassistischen und mörderischen Politik der deutschen Nationalsozialisten unter Hitler kam. Er wurde von der Spruchkammer als Mitläufer eingestuft. Aber: vereinen sich in ihm nicht die Qualitäten von Überzeugungstäter und Mitläufer?“