Karina Urbach ist Historikerin und forscht derzeit am Institute for Advanced Study in Princeton, USA und lebt in Cambridge, UK.

In #15 erzählt sie uns von den Recherchen zu ihrer Großmutter Alice.

Die Historikerin Karina Urbach hat eine bewegte Familiengeschichte. Foto: Dan Komoda

Eigentlich beschäftigen Karina Urbach die deutschen und britischen kulturellen und politischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte der internationalen Beziehungen und Geheimdienstgeschichte – bis ihr eines Tages ihre amerikanische Cousine eine Kiste mit alten Briefen und Tonbandkassetten in die Hand drückte, um die Geschichte ihrer Großmutter Alice Urbach zu recherchieren.

„Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten“ erscheint mittlerweile in fünf Sprachen und erzählt die Geschichte der erfolgreichen Wiener Kochbuchautorin Alice Urbach, die als Jüdin  mit dem „Anschluss“ Österreichs unter den Nationalsozialisten ab März 1938 Heimat, Familie und Karriere verlor. Bei ihrer Recherche stieß Karina Urbach zudem auf ein nahezu unbekanntes Kapitel in der Geschichte deutscher NS-Verbrechen – nämlich wie deutsche Verlage mit der Etablierung des NS-Regimes begannen, Sachbücher und Reihen ihrer jüdischen Autor*innen zu „arisieren“, indem sie deren Bücher rudimentär überarbeiteten und dann arischen Verfasser*innen zuschrieben, die den Nationalsozialisten genehm waren.

Ein Diebstahl geistigen Eigentums, der bis heute kaum aufgeklärt ist – und von dem auch Urbachs Großmutter Alice betroffen war. Sie kämpfte nach dem Krieg um die Rückgabe ihrer Autorenschaft, ohne Erfolg. Erst im vergangenen Jahr erreichte Karina Urbach, dass ihrer Großmutter wieder die Autorin ihres Buches ist. Es wurde 2020 noch einmal in einer limitierten Auflage gedruckt und an Bibliotheken verschenkt.

Drei Fragen, drei Antworten….

1. Historiker*innen beschäftigen sich selten mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Wo sehen Sie die besonderen Fallstricke bei der Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit?

In meinem Alice-Buch habe ich es so erklärt: „Familienforschung gilt unter meinen Kollegen als schwerer Straftatbestand. Der Grund dafür ist verständlich – der Mangel an emotionaler Distanz zu den beteiligten Personen. Genauso wie kein Chirurg seine Familienangehörigen operieren darf, so sollte kein Historiker an der Verwandtschaft herumlaborieren. Bei zittrigen Händen kann die Situation tödlich ausgehen.“ Aber natürlich war das auch selbstironisch gemeint. Familienforschung kann gut gelingen. Mehrere Kolleg*innen von mir haben mit großem Erfolg über ihre Familien geschrieben – George Mosse zum Beispiel in seinen Memoiren „Aus großem Hause“ oder jüngst Abigail Green über ihren Vorfahren Sir Moses Montefiore.  

Als ich jung war, hatte ich einen Betreuer, der meinte, ich solle auf keinen Fall über Emigrant*innen arbeiten, weil ich persönlich dem Thema „zu nahe stehen“ würde. Ich habe dummerweise auf ihn gehört und über ein ganz anderes Thema habilitiert. Rückblickend ist sein Rat natürlich völliger Quatsch. Ich verstehe sehr viel besser, wie Emigranten denken und fühlen als jemand, der nie einen richtig gekannt hat. Es fiel mir in „Das Buch Alice“ daher sehr leicht, diesen Aspekt meiner Familiengeschichte zu beschreiben. Also: Es hat Vor- und Nachteile, über seine eigene Familie zu schreiben. Solange man die innere Distanz wahrt und in erster Linie Historikerin bleibt, kann es aber durchaus gelingen.

2. Die Erfahrung zeigt: Man steckt immer wieder fest. Gibt es Tricks, wieder in die Spur zu kommen?

Der Austausch mit Kolleg*innen ist sehr, sehr wichtig. Sie können Tipps geben, welche Archive noch interessant wären. Man muss kreativ bleiben und immer neue Hintertüren finden, um an Nachlässe zu kommen. Man sollte darüber nachdenken, mit wem könnte XY noch korrespondiert haben? Mit einer Freundin oder einer entfernten Cousine? Haben diese Leute Nachkommen, findet man da vielleicht noch Briefe auf dem Speicher? Ein interessantes Beispiel hierfür ist der Premierminister Neville Chamberlain. Wenn wir seine Beschwichtigungspolitik der 1930er Jahren verstehen wollen, hilft es, sich seine Privatkorrespondenz mit seinen Tanten anzusehen. Ausgerechnet diesen alten Damen teilte er seine innersten Pläne ganz offen mit. Aus diesen Privatbriefen kann man mehr über seine Politik lernen als aus Regierungspapieren.

3. Ihre Großmutter wurde ihres geistigen Eigentums – ihres Kochbuchs – beraubt. Wie stehen in solchen Fällen die Chancen auf Wiedergutmachung?

Ich hatte schon in meinem Alice-Buch geschrieben, dass ich keine finanzielle Wiedergutmachung möchte. Mein großes Ziel war es, dass Alice – nach über 80 Jahren – wieder zur Autorin ihres eigenen Werkes wird. Und ihr alter Verlag hat das Ende 2020 tatsächlich möglich gemacht. Sie gaben Alices Enkelinnen, meiner Cousine und mir, die Rechte an „So kocht man in Wien!“ zurück und finanzierten eine limitierte Neuauflage – 100 Stück gingen an Bibliotheken in Deutschland und Österreich. Das war ein wunderbarer Erfolg! Dank Alices Fall habe ich auch herausgefunden, dass mehreren jüdischen Sachbuchautoren ihre Werke gestohlen wurden. Aus einer weitverzweigten Familiengeschichte wurde also ein sehr viel größeres Forschungsprojekt. Alle diese bestohlenen Autoren sind natürlich schon lange tot, aber ich hoffe sehr darauf, dass deutsche Bibliotheken ihnen ihre Bücher zumindest symbolisch wiedergeben. Sie müssen dafür nur die Katalogeinträge ändern. Dann wird zum Beispiel der erste Herausgeber von Knaurs Gesundheitslexikon wieder ein jüdischer Mediziner namens Josef Löbel (1882-1942), anstatt dass ein Nationalsozialist gewürdigt wird, der Löbel um sein Lebenswerk betrogen hat.

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