Der Politikwissenschaftler Jürgen Falter beschäftigt sich seit seiner Emeritierung im Rahmen einer Senior-Forschungsprofessur an der Uni-Mainz intensiv mit den Mitgliedern der NSDAP.

In #8 NSDAP erklärt Jürgen Falter, wie die Partei so groß werden konnte.

Wer wählte die NSDAP – und wer wurde Mitglied? Diese Fragen beschäftigen den Parteienforscher Jürgen Falter seit vielen Jahren. Foto: Melanie Longerich

Viele Jahre widmete sich Jürgen Falter der Wahl- und Parteienforschung sowie dem politischen Extremismus und der Fremdenfeindlichkeit – kaum eine Radio- und TV-Talkshow kam dabei ohne ihn aus. Nach seiner Emeritierung knüpfte Jürgen Falter dort an, wofür er – damals noch Politikwissenschaftler an der FU Berlin, schon 1991 mit seinem Buch „Hitlers Wähler“ große Aufmerksamkeit erreichte – nämlich für die soziale Vermessung der NSDAP mit Methoden der empirischen Sozialwissenschaft: Datenerhebung, Datenbereinigung, die Erstellung von Kategoriesystemen – eine müheselige, zeitintensive Arbeit, für die Historiker nur in den seltensten Fällen überhaupt das Rüstzeug haben. Falters Forschungen beruhen auf der Auswertung von 52.000 NSDAP-Mitgliedskarten der Zentralkartei der Partei, die heute das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde aufbewahrt – eine wahre Fundgrube, die nur durch viel Glück die Zerstörungswut der Nazis überdauerte.

Derzeit arbeitet Jürgen Falter schon an seinem nächsten Buch – wofür er neben zeitgenössischen autobiographischen Berichten Spruchkammerakten und Aussagen vor den Entnazifizierungskommissionen auswertet.

Vier Fragen …vier Antworten

Nach vielen Jahren Pause beschäftigen Sie sich heute wieder intensiv mit der NSDAP – was reizt Sie als Parteienforscher daran?

Seit meiner Jugend in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts treibt mich die Frage um, wie in einem so hochzivilisierten und kultivierten Land wie Deutschland eine so inhumane, zerstörerische Kraft wie die NSDAP bei Wahlen fast die Hälfte der Wählerschaft für sich gewinnen konnte und wie es kam, dass in den ersten Jahren des Dritten Reichs die Zustimmung zum Regime deutlich wuchs, wie Sebastian Haffner in seinen „Anmerkungen zu Hitler“ so plastisch schildert. Mich reizt zu erfahren, welche Personenkreise unter welchen Bedingungen dazu tendieren, der Demokratie und den etablierten Parteien den Rücken zu kehren und eine Diktatur der liberalen Demokratie vorzuziehen. Es ist am Ende die Sorge um die Gefährdung demokratischer Systeme in wirtschaftlichen und/oder politischen Krisenzeiten und der Wunsch, aus unserer Erkenntnis darüber zu lernen, die mich zu meinen jahrzehntelangen Forschungen darüber antreibt.

Sie haben sich in Ihrer Arbeit intensiv mit den NSDAP-Mitgliederkarteien beschäftigt. Wenn Suchende nun vom Bundesarchiv die Kopie der Karteikarte ihrer Großeltern vor sich liegen haben, was sind wichtige Ansatzpunkte, daraus mehr über sie zu erfahren?

Auf den Mitgliedskarten steht ja alles Mögliche, darunter auch das Eintrittsdatum und gegebenenfalls auch bei einer kleinen Minderheit das Austrittsdatum. Wann man in die NSDAP eingetreten ist, kann Aufschluss darüber geben, ob der Großvater ein überzeugter Nationalsozialist war oder vielleicht doch eher ein Opportunist, der sein Fähnchen nach dem Wind hängte. War der Großvater ein sogenannter Alter Kämpfer, also jemand mit einer Mitgliedsnummer unter 300.000 bzw. einem Eintrittsdatum vor dem ersten großen reichsweiten Wahlerfolg der NSDAP im September 1930, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er ein überzeugter Nationalsozialist war. Ist er erst 1937 eingetreten, als die Partei wieder für die Allgemeinheit geöffnet wurde (sie war von Mai 1933 bis Ende April 1937 nur für einen sehr kleinen Personenkreis überhaupt zugänglich) besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass er aus opportunistischen Gründen, um sich eine Beförderung zu sichern, zusätzliche Aufträge zu bekommen oder auch aus Selbstschutz der Partei beigetreten ist, ohne notwendigerweise deswegen ein überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein. Aber natürlich waren nicht alle, die der Partei zwischen 1933 und 1942 (danach wurde sie wieder für die Allgemeinheit geschlossen) beigetreten sind, Opportunisten. Selbstverständlich gab es unter denen, die sich während des Dritten Reiches der NSDAP anschlossen, auch viele hundertprozentig überzeugte Nationalsozialisten.

Heute gilt in vielen Familienerzählungen eine NSDAP-Mitgliedschaft der Großeltern fast wie ein Kavaliersdelikt. „Waffen-SS, ja, das ist schlimm“, hört man oft, „aber in der NSDAP war ja fast jeder drin“. Sie sehen das anders, warum?

Am Kriegsende war fast jeder siebte Erwachsene NSDAP-Mitglied. Das waren rund neun Millionen Parteigenossen. Die Mehrheit dürften sogenannte Mitläufer gewesen sein, also Menschen, die keine in der Wolle gefärbte Nationalsozialisten waren, sondern sich der Partei anschlossen, weil sie sich einen persönlichen Vorteil davon versprachen, weil sie sich an den Zeitgeist und ihre Umgebung anpassen wollten oder in seltenen Fällen auch, weil sie sich oder jemanden aus ihrer Familie schützen wollten. Im Allgemeinen waren es sehr eigennützige Motive, die jemanden dazu brachten, einen Aufnahmeantrag in die NSDAP zu stellen. Dass man damit willentlich oder unwillentlich die NSDAP und das Dritte Reich stärkte, war unvermeidlich und wurde von den meisten billigend in Kauf genommen. Insofern waren auch die Mitläufer Unterstützer des nationalsozialistischen Regimes. Nicht vergessen werden sollte, dass zwar in vielen Fällen Druck ausgeübt wurde, aber niemand gezwungen wurde, der NSDAP beizutreten und es auch keine nachgewiesenen kollektiven Überführungen etwa aus der Hitlerjugend in die NSDAP gab. Jeder musste einen eigenhändig unterschriebenen Aufnahmeantrag stellen, und Parteimitglied wurde man offiziell erst mit Aushändigung der Mitgliedskarte oder des Mitgliedsbuches in der jeweiligen Ortsgruppe.

Für Ihr neues Buch, das Anfang 2022 erscheint, werten Sie vor allem Spruchkammerakten aus. Die sollte man mit Vorsicht lesen, heißt es – warum eigentlich?

Mein nächstes Buch beschäftigt sich mit den Eintritts- und Austrittsmotiven von NSDAP-Mitgliedern. Grundlage sind gut 1000 Berichte früher NSDAP-Mitglieder, in denen diese über die Beweggründe und die Umstände ihres Parteieintritts berichten, ferner die Entnazifizierungsakten dieser Personen sowie die Spruchkammerakten einer Zufallsstichprobe ehemaliger Parteigenossen aus dem früheren Gau Hessen-Nassau. In dem Buch gehen meine Mitarbeiter und ich unter anderem auf die Rolle ein, die Beweggründe wie Antisemitismus, Antikommunismus, extremer Nationalismus oder auch die Sehnsucht nach der Volksgemeinschaft für die Entscheidung, der NSDAP beizutreten, gespielt haben. Außerdem untersuchen wir die Austrittsmotive der gut 750.000 Personen, die die Partei wieder verließen, was im Allgemeinen ohne Gefahr für Leib und Leben bis Kriegsende möglich war. Bei der Auswertung sowohl der Lebensberichte der frühen NSDAP-Mitglieder als auch der Spruchkammerakten muss man jeweils den Entstehungskontext berücksichtigen. Die Berichte der frühen NSDAP Mitglieder wurden während des Dritten Reichs verfasst, die Spruchkammerakten entstanden im Verlaufe des Entnazifizierungsprozesse nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Es ist davon auszugehen, dass während des Dritten Reiches die Berichte im Sinne der herrschenden Ideologie und der offiziellen Staatsdoktrin verfasst wurden, während nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs die ehemaligen Parteimitglieder versuchten, harmlose Erklärungen und Entschuldigungsgründe für ihren Parteibeitritt zu finden. Besonders interessant ist es, die Berichte der Alten Kämpfer, die sie während des Dritten Reiches verfasst hatten, mit ihren Äußerungen zu vergleichen, die sie im Rahmen ihres Entnazifizierungsverfahrens machten. Erst aus der Zusammenschau beider lässt sich so etwas wie die historische Wahrheit gewinnen.

Wenn Ihr mehr wissen wollt…

… über Jürgen Falters Arbeiten zur NSDAP

… hier berichten die Medien über seine Arbeit

… über weitere Themen von Jürgen Falter

Eine umfassende Bibliografie findet Ihr auf der Seite der Uni Mainz