Die Historikerin ist Ausstellungsmacherin am NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln und arbeitete davor am Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.

In #17 sprechen wir mit ihr über die Entnazifizierung

Die Historikerin Hanne Leßau hat sich das Thema Entnazifizierung nochmals mit frischem Blick vorgenommen. Foto: Damian Longerich

Für ihre Doktorarbeit hat sich Hanne Leßau intensiv mit der Entnazifizierung in der britischen Besatzungszone beschäftigt. Dafür wertete sie 800 Verfahrensakten aus, aber auch Tagebücher, Notizzettel, Briefe und Zeitungsartikel. Die bislang gängige Annahme, dass die Entnazifizierung gescheitert ist, weil sich die Deutschen ihr durch Täuschen und Vertuschen entziehen konnten, möchte Hanne Leßau so nicht stehen lassen. In ihrem 2020 erschienenen Buch „Entnazifizierungsgeschichten“ kommt sie zu einem für viele überraschenden Fazit, nämlich dass die politische Überprüfung bei vielen durchaus eine intensive und ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit in der NS-Zeit angestoßen hat. Für ihre Arbeit erhielt sie den Wilhelm-Hollenberg-Preis der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum e.V.

Themen rund um den Nationalsozialismus, die längst aufgeklärt zu sein scheinen, doch noch Neues zu entlocken, scheint ihr Ding zu sein – wie auch ihre Ausstellung in Nürnberg 2020 zeigte, die sich mit dem „Reichsparteitagsgelände im Krieg“ beschäftigte. Dass an diesen Ort, der wie kein anderer für die propagandistische Selbstdarstellung der Nationalsozialisten steht, seit Kriegsbeginn auch zehntausende Kriegsgefangene und Zivilisten aus Ost-, West- und Südeuropa sowie den USA lebten, um Zwangsarbeit zu leisten, davon ist heute wenig bekannt.

Drei Fragen – drei Antworten

1. Sie haben 800 Entnazifizierungsakten aus dem britischen Sektor ausgewertet, was ist Ihnen dabei aufgefallen?

Das serielle Lesen einer großen Anzahl dieser Akten war unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten aufschlussreich. So ist über die konkrete Praxis der Entnazifizierung in der britischen Zone vergleichsweise wenig bekannt. Die qualitative wie quantitative Auswertung dieser 800 Akten umfassenden Zufallsstichprobe hat hier viel neues Wissen produziert, etwa über das Sozialprofil der von der Entnazifizierung Betroffenen, aber vor allem auch über konkrete Verfahrensabläufe – die Dauer von Überprüfungsverfahren, Änderungen im Zeitverlauf, die Bedeutung/Häufigkeit von Vorladungen u.a.m.

Besonders interessant fand ich das große Ausmaß, in dem die überprüften Personen eigeninitiativ mehr Informationen an die Prüfgremien herausgaben als von ihnen gefordert. In der Regel war ‚nur‘ das Ausfüllen eines mehrseitigen Fragebogens vorgesehen, der allerdings lediglich Ja/Nein-Antworten oder faktische Angaben wie Daten, Orte, Institutionen erfragte. In jedem dritten Verfahren aber begnügten sich die Verfahrensbetroffenen nicht damit, sondern verfassten vielmehr Texte, in denen sie die Angaben in ihrem Fragenbogen erläuterten und in ausführliche Beschreibungen ihres Lebens einbetteten.

In meinem Buch steht das Entstehen, Erklären und Wirken dieser vergangenheitsbezogenen Selbstdeutungen – ich nenne sie Entnazifizierungsgeschichten – im Mittelpunkt. Für jene, die evtl. etwas unschlüssig vor diesen Texten ihrer Angehörigen sitzen, könnte interessant sein, dort mehr darüber zu erfahren, wie sich diese Texte verstehen lassen und dass es fehlgeht, sie einfach nur als für den Zweck der Entnazifizierung entworfene strategische Dokumente zu betrachten. Sie enthalten viel mehr tatsächliche Erfahrungen aus der NS-Zeit und ernstgemeinte Deutungen des eigenen Lebens als es der weit verbreitete abschätzige Ruf der Entnazifizierung vermuten lässt. Und dennoch zeichnen sie nicht einfach ein ‚richtiges‘ Bild von der Vergangenheit des/der zu Überprüfenden.

2. Worauf sollte man beim Lesen solch einer Akte achten?

Das kommt stark darauf an, wofür man die Entnazifizierungsakte liest. Begreift man sie beispielsweise in erster Linie als einen Fakten-Steinbruch, um biografische Informationen – Daten, Mitgliedschaften, Orte u.a.m. – zu erfahren bzw. zu überprüfen, liest man die enthaltenen Schriftstücke mit Blick auf die Angaben und achtet ggf. noch auf interne Widersprüche. Man benötigt aber nicht unbedingt ein vertieftes Verständnis der Schriftstücke selbst.

Interessiert man sich dagegen näher dafür, wie die politische Überprüfung des/der Angehörigen vonstattenging und welche Selbstbeschreibung entworfen wurde, ist es eigentlich unabdingbar, etwas über die Entnazifizierung in der britischen Zone zu wissen. Während die weithin bekannten Spruchkammerverfahren der US-Zone eine große Nähe zu Gerichtsverfahren aufwiesen, ähnelten die Überprüfungsverfahren in der britischen Zone einer behördlichen Antragsprüfung. Folglich sucht man in den dortigen Akten vergeblich nach „Ermittlungsergebnissen“, „Anklageschriften“ und „Urteilsbegründungen“. Stattdessen liegen etwa case summaries als zentrale Dokumente der Prüfer vor, die mithilfe verschiedener Buchstaben- und Zahlenkürzel hier Ergebnisse über Belastung und Bewertung notierten. In der britischen Zone gab es ein zweistufiges Prüfverfahren, indem zunächst lokale, betriebseigene Unterausschüsse eine Beurteilung vorschlugen und anschließend der Hauptausschuss eine Entscheidung fällte.

Es hilft zudem zu wissen, dass zahlreiche der Entnazifizierungsakten nicht chronologisch geordnet sind. Die enthaltenen Schriftstücke müssen daher vielfach erst einmal mithilfe eigener Notizen in ihre logische Abfolge gebracht werden. Hierfür sind Datierungen natürlich hilfreich, aber wichtiger noch sind Grundkenntnisse über die Etappen eines Entnazifizierungsverfahrens und der beteiligten Akteure.

3. Was sind in der Akte gute Anhaltspunkte, um weiter zu recherchieren?

Entnazifizierungsakten sind echte Fundstücke für Familienforschungen. Eine Anfrage nach der Entnazifizierungsakte beim entsprechenden Staats- oder Landesarchiv empfiehlt sich daher gleich zu Beginn einer personenbezogenen Recherche. Zuständig ist in aller Regel das Staats- oder Landesarchiv, in dessen Zuständigkeitsbereich die betreffende Person nach 1945 ihren Wohnsitz hatte. Die in den Akten enthaltenen Fragebögen umfassen mit den Rubriken zu persönlichen Angaben, Mitgliedschaften in NS-Organisationen, zu schulischen und beruflichen Stationen, zum Militärdienst und Auslandsaufenthalten ein sehr breites Spektrum an Sachinformationen über das Leben des/der Angehörigen. In vielen Fälle finden sich darüber hinaus Schriftstücke über das Leben der überprüften Person – selbstverfasst oder von Bekannten.

Die in den Verfahren gemachten Angaben bieten unterschiedliche Anhaltspunkte, um weitere Materialien zu finden. So können die Angaben zum Militärdienst dabei helfen, die nötigen Informationen zusammenzutragen, um eine Anfrage bei der ehemaligen Wehrmachtsauskunftstelle / heute Teil des Bundesarchivs Berlin zu stellen. Die Auflistung der beruflichen Stationen seit Anfang der 1930er Jahre kann wiederum Hinweise darauf geben, ob möglicherweise eine Personalakte vorliegen könnte (bei im öffentlichen Dienst Beschäftigten) oder man kann damit versuchen, etwas mehr über die früheren Arbeitgeber, die Tätigkeit des Betriebs etc. herauszufinden. Bei Angaben zu Mitgliedschaften in SS, SD, Gestapo oder einem höheren Rang in der NSDAP – den sogenannten verbrecherischen Organisationen – und einem Wohnsitz in den ersten Nachkriegsjahren in der ehemaligen britischen Zone lohnt sich eine Anfrage beim Bundesarchiv in Koblenz. Dort werden die Akten der Internierten aufbewahrt, die in der britischen Zone bei Kriegsende in Internierungslager eingewiesen wurden und dort vielfach ein eigenständiges Spruchgerichtsverfahren durchliefen, bevor sich nach ihrer Freilassung noch ein Entnazifizierungsverfahren anschloss. Bei bestimmten Hinweisen auf Mitgliedschaften und Stellungen ist zudem das Berlin Document Center eine wichtige Anlaufstelle.

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