Gabriele Rosenthal kennt sich aus mit Biographie- und Familienforschung und beschäftigte sich als eine der Ersten in Deutschland mit den Folgen des Holocaust für Kinder und Enkel von Tätern und Opfern. Sie ist Soziologin und Professorin für Qualitative Methoden der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen.
In #5 Rosenthal erläutert sie, wie man erfolgreich Gespräche mit der Familie über die NS-Zeit führt.

Erst einmal lange zuhören, was Angehörige zu erzählen haben: die Soziologin Gabriele Rosenthal sieht darin den wichtigsten Schritt, mehr über die Familiengeschichte zu erfahren. (Foto: Susanne Hakuba)

Gabriele Rosenthal war unter anderem Gastdozentin an der Ben-Gurion-Universität des Negev in Be’er Scheva und arbeitete dort mit Dan Bar-On zusammen. Der israelische Psychologieprofessor hatte Mitte der 1980er Jahre als erster israelischer Wissenschaftler damit begonnen, die moralischen und psychologischen Nachwirkungen des Holocaust auf die Kinder von NS-Tätern zu erforschen.

Gemeinsam entstand Mitte der 1990er Jahre die Idee für eine Studie deutscher und israelischer Forscherinnen, die Gabriele Rosenthal leitete. Dafür wurden in Israel, in West- und Ostdeutschland Familien über jeweils drei Generationen dazu befragt, wie bei ihnen über die NS-Zeit gesprochen wird. Familien von Verfolgten vom Naziregime wurden ebenso befragt wie Familien von NS-Tätern und Mitläufern. Dabei sollten auch Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welchen Einfluss die Vergangenheit der Großeltern auf das Leben ihrer Kinder und Enkel hat. Die Studie erschien 1997 unter dem Titel „Der Holocaust im Leben von drei Generationen“ als Buch.

Für die Gespräche mit den Familien wählte Gabriele Rosenthal die Form des narrativen, also „erzählenden“ Interviews, das der Soziologe Fritz Schütze 1977 entwickelt hatte, um kommunale Machtstrukturen zu erforschen. Mittlerweile – auch dank Gabriele Rosenthal – ist das narrative Interview aus der Biographieforschung nicht mehr wegzudenken. Denn es gibt den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern Raum , eigene Erlebnisse und Erfahrungen selbst zu strukturieren und zu erzählen. Dabei sollen sich Fragende zurücknehmen, mit eigenen Fragen nur Anreize setzen, das Erinnern in Gang zu bringen.  

Drei Fragen, drei Antworten…

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren damit, wie Familien von Täterinnen und Tätern, aber auch Verfolgten die Erlebnisse an ihre Nachkommen weitergeben. Welche Erkenntnisse haben Sie dabei besonders beschäftigt?

Am meisten beschäftigt mich immer wieder – auch in ganz anderen Forschungszusammenhängen – wie stark die kollektive und familiale Vergangenheit von erlittener Gewalt oder selbst ausgeübter Gewalt unsere Gegenwart beeinflusst – und dies besonders dann, wenn sie im kollektiven und im familialen Diskurs verleugnet oder verharmlost oder gar wie bei den Täter*innen des Nationalsozialismus abgestritten wird.  Besonders überrascht hat mich, wie wir mit der Studie zu den drei Generationen aufzeigen konnten, wie sehr die konkreten Belastungen (u.a. in Phantasien oder Träumen) auf das konkret Erlebte der Großelterngeneration hinwiesen. 

Wie genau ist die eigene Lebensgeschichte von Familiengeschichte beeinflusst?

Wenn es ein Schweigen, eine Tabuisierung oder ein Verleugnen von Anteilen der Familiengeschichte gibt, sind wir Nachgeborenen damit bewusst oder unbewusst beschäftigt, und wir agieren dies teilweise in unseren biographischen Wahlen aus – wie in der Partnerwahl oder der Berufswahl. Außerdem kann eine gewaltsame Familienvergangenheit dazu führen, dass wir von bedrohlichen Vorstellungen oder Träumen darüber verfolgt werden oder auch psychische Symptome – vor allem Ängste und Schuldgefühle  – entwickeln.

Gibt es einen persönlichen Grund, warum Sie sich für das Thema interessieren?

Dafür gibt es einige Gründe, die mit meiner Familiengeschichte zusammenhängen. Meine Großeltern waren auf beiden Seiten in unterschiedlicher Weise gegen den Nationalsozialismus. Insbesondere mein Großvater väterlicherseits hat sich praktisch im Handeln gegen die NSDAP gestellt und mit unterschiedlichen Aktivitäten Jüd*innen geholfen. Dies ist aktenkundig, u.a. geht es aus den Akten der NSDAP hervor. Meine Eltern dagegen waren begeisterte Anhänger der Hitlerjugend. Diese Familiendynamik allein erlegt einem die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf. Dies trifft auch sowohl auf meinen Vater als auch auf meine Mutter zu, die beide mit Schuldgefühlen diesbezüglich kämpften und mit mir auch darüber sprachen. Hinzu kommt mein „jüdischer“ Familienname, durch den ich in meinem Leben – ebenso wie die Generationen vor mir – immer wieder mit antisemitischen Reaktionen konfrontiert war und bin.

Wenn Ihr mehr wissen wollt

über das narrative Interview

wie in Familien über die Vergangenheit gesprochen wird

Festvortrag von Gabriele Rosenthal im Mai 2014 am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust Studien zum Thema „Der Zweite Weltkrieg aus unterschiedlichen Perspektiven. Zur erzählgenerierenden und erzählhemmenden Wirkung verschiedener Familienvergangenheiten“. (Ab Min. 12)

über weitere Themen von Gabriele Rosenthal

  • KindersoldatInnen im Kontext. Biographien, familien- und kollektivgeschichtliche Verläufe in Norduganda, Universitätsverlag Göttingen 2018, 125 Seiten, als Print 20 Euro oder als kostenloser Download
  • mit Viola Stephan und Niklas Radenbach: Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familien von „Russlanddeutschen“ ihre Geschichte erzählen, Campus 2011, 287 Seiten, 29,90 Euro