#11 Jürgen

Jürgens Großvater, Foto privat

„Ich hatte mich auszusöhnen und zu integrieren, dass in meinem Familiensystem schreckliches Leid, brutale Traumatisierung und viele sehr unterschiedliche Kompetenzen und Identitäten, sowie auch schließlich schreckliche Schuld, Böses vorhanden war. Oft nebeneinander in einer Person. An meiner Familiengeschichte kann man ganz typisch sehen, dass Familien nicht ausschließlich aus Tätern, Mitläuferinnen oder Verfolgten bestehen, sondern dass sich all diese Geschichten auch verweben. Ein Großvater war reicher jüdischer Kaufmann in Wiesbaden und schwängerte sein Kindermädchen, meine Großmutter. Und erkannte seine Tochter aber nicht an. Meine Großmutter wurde zur Judenhasserin. Meine Mutter wusste von dieser Vorgeschichte lange nichts. Erst als sie Bezirksführerin beim BDM werden wollte, erfuhr sie davon, dass sie Halbjüdin ist – und entkam den Nazis mit Hilfe des jüngsten Bruders meiner Großmutter, der Reichsredner im Propagandaministerium war. Ich habe viele Jahre gebraucht, um die Bedeutung und die Wirkung der „unsichtbaren Bindungen„, wie Ivan Boszormenyi-Nagy sie beschreibt, zu erfassen und mich mit der Vergangenheit auszusöhnen. Heute geht es mir gut – mit allem.“

Jürgens Großmutter in jüngeren Jahren,
Foto privat
Jürgens Mutter als Kindergärtnerin in Bayern, Anfang der 1940er Jahre. Kurze Zeit bevor sie erfuhr, dass sie Halbjüdin ist. Foto privat