Familie Urbański ca 1967 Hinten mein Vater Jerzy

„Plakativ gesagt, könnte man behaupten, dass ich mit dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen bin. Die Erzählungen meiner Großeltern und die Familiengeschichten aus dem Krieg sind mir schon seit den frühen Kindheitserinnerungen präsent. Weil die Erwachsenen um mich herum immer über diesen Krieg erzählt haben, glaubte ich als kleiner Junge, dass das Ganze erst vor wenigen Jahren stattgefunden habe und noch gar nicht so lange vorbei sei. Noch bevor ich lesen konnte, blätterte ich voller Neugier in einem riesigen Geschichtsbuch meines Großvaters über den Zweiten Weltkrieg und betrachtete mit Faszination die Schwarz-Weiß-Fotos von brennenden Schlachtschiffen, explodierenden Panzern und abgestürzten Flugzeugen. Auch wenn ich damals als Kind den Schrecken und das Leid des Krieges nicht begreifen konnte, vermutlich begann schon damals mein Interesse an Geschichte im Allgemeinen und am Zweiten Weltkrieg im Besonderen.

Als Zwangsarbeiter verschleppt

Dass in unserer Familie offen und ohne Tabus über diesen Krieg gesprochen wurde und bis heute wird, könnte vielleicht auch an der besonderen Familienkonstellation liegen.
Mütterlicherseits ist die Familie deutsch, schon seit Generationen im Oberschwäbischen ansässig. Mein deutscher Großvater war Wehrmachtssoldat in Russland, genauso wie seine Brüder und auch die Brüder meiner deutschen Großmutter. Vor allem die Großmutter sprach oft mit mir über ihre Erlebnisse als Jugendliche im Nationalsozialismus und im Krieg sowie den Kriegserlebnissen ihrer Brüder

Opa Paul 1942

Väterlicherseits ist meine Familie polnisch. Mein polnischer Großvater war im September 1939 Soldat, geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurde später in die zivile Zwangarbeit gepresst. Meine Großmutter wurde als junge Frau zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt und musste dort in verschiedenen Rüstungsbetrieben arbeiten. Nach dem Krieg wurden sie sogenannte Displaced Persons und blieben letztlich notgedrungen als sogenannte heimatlose Ausländer in Deutschland. Mein Vater selbst ist die ersten Jahre seines Lebens in den DP-Lagern aufgewachsen und erzählte mir viel von seinen Kindheitserlebnissen in den Lagern sowie den Familienüberlieferungen aus dem Krieg.

Unterschiede in der Erinnerungskultur

Opa Wladyslaw ca 1942

Dabei gab zwischen den beiden Familienzweigen aber niemals Streit oder gar gegenseitige Vorwürfe, gleichwohl manchmal gegensätzliche historische Narrative aufeinander trafen. Es war vor allem ein Austausch an verschiedenen Familienerfahrungen und die individuellen Schicksale einzelner Familienmitglieder. Dennoch gab es Unterschiede in der Erinnerungskultur beider Familien. Auf deutscher Seite wurden die Erlebnisse – bei näherer Betrachtung oft auch schlimme Ereignisse – eher in Form von Anekdoten erzählt und die Erinnerung an den Krieg blieb dabei meistens auf der individuellen Ebene. Im polnischen Familienteil wurde in den Erzählungen nicht nur das individuelle Erlebnis betont, sondern stets in den größeren nationalen Kontext des polnischen Schicksals gestellt. Nicht selten ging es dann in der Diskussion ganz allgemein zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges über das eigene Familienschicksal hinaus.

Wichtige Details für die Familienerzählung

Mit all diesen Familienerinnerungen aufgewachsen, hatte ich nie Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen. Jedoch wuchs irgendwann der Wunsch mehr zu wissen als die manchmal etwas vagen Famliengeschichten und vor allem mehr Konkretes über die eigenen Wurzeln in Polen zu erfahren. Der erste Gedanke an Familienforschung kam mit 18 Jahren als ich gerade meinen Anderen Dienst im Ausland in Polen leistete. Der aber in der Familie vorherrschende Glaubensgrundsatz, es gäbe keine Unterlagen mehr, weil alles im Krieg vernichtet worden wäre, hielt mich zunächst zurück. Es dauerte nochmal ungefähr zehn Jahre als ich – mittlerweile fest in Polen lebend – begann, die ersten Schritte in der Familienforschung zu gehen. Dabei hatte ich nicht mehr als den Scan einer vergilbten Heiratsurkunde meiner polnischen Großeltern aus der unmittelbaren Nachkiegszeit. Das große Glück war, dass bei den Arolsen Archives sehr viele Unterlagen über meine Großeltern zu finden waren, die mir zusätzliche Hinweise für eine weiterführende Suche in deutschen und polnischen Archiven lieferten. So konnte ich auch unter anderem die deutschen Kriegsgefangenenunterlagen meines Großvaters ermitteln und mehr Details über seine Kriegsgefangenschaft durch das zuständige Museum CMJW in Opole erfahren. Trotz mancher Hindernisse, wie aus dem Polnischen ins Deutsche falsch übertragene Personen- oder Ortsnamen, konnte ich viele Familienerzählungen nicht nur bestätigen, sondern durch weitere Details ergänzen. Damit bin ich aber noch längst nicht fertig und forsche weiter und versuche auch das Schicksal der damals im besetzten Polen zurück gebliebenen Familienmitgliedern zu ermitteln, wie das meiner Urgroßmutter, die laut Familienerzählung in einem Konzentrationslager ermordet wurde.

Krieg als Teil der eigenen Lebensgeschichte

Aber im Zuge dieser polnischen Familienforschung entstand auch der Wunsch, mehr über die deutsche Familienseite zu erfahren, vor allem den miltärischen Werdegang meines Großvaters. Über die WASt
erhielt ich erste Unterlagen und im Nachlass fanden sich auch Hinweise über seine Kriegsgefangenschaft in Großbritannien. Auch diese Suche in diversen deutschen und ausländischen Archiven ist noch nicht abgeschlossen, aber dass mein Großvater in einem englischsprachigen Buch über britische Kriminalgeschichte Erwähnung findet, war bisher die größte Überraschung dieser Suche. Selbstverständlich stellt sich dabei immer wieder die Frage nach einer möglichen Beteiligung an den Verbrechen des Angriffskrieges und dem Verhältnis zum politischen System. Soweit ich das aber bisher beurteilen kann, gab es in der deutschen Familie keine Mitgliedschaft in der NSDAP oder anderen Parteiorganisationen. Es gibt auch keine Hinweise für eine aktive Beteiligung an Kriesgverbrechen, insofern glaube ich für meinen Großvater das Prinzip der Unschuldsvermutung beanspruchen zu können.

Alles in allem glaube ich nicht, dass ich behaupten könnte, ich persönlich hätte ein Trauma über die Generationen hinweg aus diesen familiären Kriegsschicksalen davongetragen. Mit Sicherheit aber war dieser Krieg und seine Folgen prägend für meine Familie. Und letztendlich sind diese Familiengeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg auch ein Teil meiner Persönlichkeit und meiner Lebensgeschichte auf so vielen Ebenen: die Motivation, den Wehrdienst zu verweigern und meinen Ersatzdienst in Polen zu leisten, die Kontakte zur noch vorhandenen Familie in Polen, die Entscheidung nach Polen zu ziehen und mein Engagement in Projekten der Völkerverständigung und Versöhnug. All dies glaube ich, lässt sich auf diese Familienkonstellation und somit letztlich auf den Krieg zurückführen. Weil dieser Krieg in gewisser Weise auch Teil meiner eigenen Lebensgeschichte ist, möchte ich mehr über die Kriegsschicksale meiner Familienmitglieder erfahren.“