„Ich bin mit meiner Urgroßmutter (Jg. 1925) im selben Haus aufgewachsen und habe in meiner Kindheit und Jugend viel Zeit mit ihr verbracht. Sie erzählte mir immer viel aus ihrem Leben, auch über ihre Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus.
Eine Geschichte, die sie mir erzählte, blieb lange rätselhaft für mich. Nach einem Besuch mit der Schule in einer KZ-Gedenkstätte, erzählte sie mir, dass ihre Schwägerin Irmgard Plättner, geb. Kasten (Jg. 1921), auch in einem KZ gewesen sei. Irmgard hatte nicht arbeiten wollen und sei deswegen verhaftet und schließlich im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück umgebracht worden.
Ich habe diese Geschichte geglaubt, gleichwohl sie immer mit gewissen Fragezeichen verbunden blieb. Warum hätte eine deutsche Frau, verheiratet mit einem Soldaten, verhaftet werden sollen, weil sie nicht arbeiten wollte? Irgendwann dämmerte mir, dass sie wohl zur Gruppe der Menschen gehören musste, die als sogenannte „Asoziale“ verfolgt worden waren. Aber ich hatte für diese Geschichte nicht den Hauch eines Beweises.
Im Jahr 2020 nahm ich mir vor, Licht ins Dunkel dieser Geschichte zu bringen. Nach erfolglosen Anfragen bei den Arolsen Archives, der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel wurde ich beim Niedersächsischen Landesarchiv am Standort Wolfenbüttel fündig.
Ich erhoffte mir nicht viel, doch fand ich eine reichhaltige Akte vor, einen Entschädigungsantrag meines Urgroßonkels im Rahmen der sog. „Wiedergutmachungspolitik“, in der ich viel über Verfolgung und insbesondere die Zeit im KZ erfahren konnte. Von dieser Akte ausgehend, gelang es mir in mühsamer Kleinarbeit vieles über das Leben meiner Urgroßtante herauszufinden. Jede Adresse und jedes Datum konnten Hinweise geben. Diese Arbeit ist bisweilen frustrierend, weil nicht jeder Ansatz zu neuen Erkenntnissen führt, aber jeder Erfolg motivierte mich, weiter zu suchen. Nach und nach entstand ein, natürlich immer noch vages, mosaikartiges Bild des Lebens und der Verfolgung meiner Urgroßtante.
Natürlich ist es am Ende nur eine Annäherung an das Leben dieser Frau, die ich nie kennengelernt habe. Wie sie war und was sie fühlte wird für immer ungewiss bleiben, denn keine Quelle kann mir darüber etwas sagen. Dennoch ist sie heute keines der viel zu vielen namenlosen und vergessenen Opfer des Nationalsozialismus mehr.
Der Antrag auf Entschädigung, der gleichbedeutend mit der Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus gewesen wäre, wurde 1952 abgelehnt. Erst 2020 wurden Menschen wie Irmgard Plättner per Beschluss durch den Bundestag als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. An sie und ihr Schicksal erinnert seit letztem Jahr ein Stolperstein in Braunschweig.
Die eigene Familiengeschichte ist ambivalent – wie die Geschichte im Allgemeinen. Auch wenn es immer viele offene Fragen geben wird, gerade auch mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus, kann ich diese Ambivalenz aushalten und sie bereitet mir keinen Kummer.“
Daniel Haberlah hat über die Suche ein Buch geschrieben: Als ‚Asoziale‘ nach Ravensbrück. Das kurze Leben der Irmgard Plättner. Eine Spurensuche ist bei Einert & Krink verlegt.